Die 2 Legenden
der Rennbahn Oerlikon

Radfahrer in der Schweiz sind mit einigen der besten Strassen gesegnet. Diejenigen, die in Region Zürich leben, dürfen zudem auf die offene Rennbahn Oerlikon zählen.  Nur wenige Minuten von Zürichs Stadtzentrum entfernt, wurde diese wunderbare Bahn 1912 erbaut und ist seither ein fester Bestandteil des Schweizer Radsports. Und der Mann, der die Bahn betreibt, ist genauso eine Legende wie die Anlage selbst!

Die offene Rennbahn wurde 1912 im damals noch eigenständigen Vorort Oerlikon nördlich von Zürich gebaut. Inzwischen ist Oerlikon von der Stadt überrollt und eingemeindet worden, sodass man nicht mehr sagen kann, wo Zürich aufhört und Oerlikon beginnt. Anfang des 19. Jahrhunderts war Bahnradfahren ein richtiger Trendsport. Fast jede grössere Stadt in Europa hatte mehrere Radrennbahnen, genauso Zürich. Diejenige in Oerlikon ist eine 330 Meter lange Betonbahn im Freien. Sie war Austragungsort von 7 Weltmeisterschaften zwischen und 1983.  Die berühmten Strassenrennen der Zürcher Meisterschaft und die sogenannte Züri-Metzgete endeten auf der offenen Rennbahn Oerlikon.  Die Rennfahrer fuhren mit 40 Stundenkilometern unter Jubel der Zuschauer auf den Tribünen in das Haupttor ein. Ich war 1996 dabei, als Lance Armstrong im Zielsprint der Zürcher Meisterschaft Zweiter wurde. Das war zwei Monate bevor bei ihm Krebs diagnostiziert wurde. Unvorstellbar, dass jemand auf einem so hohen Niveau fährt, während sein ganzer Körper von Krebs befallen ist.

In den 1950er Jahren war die Rennbahn durch die riesige Rivalität zwischen den grossen Schweizer Radfahrlegenden Hugo Koblet und Ferdi Kübler sehr beliebt. In diesen Jahren öffnete Giuseppe Guerini einen winzigen Fahrradladen am Eingang der Rennbahn. Guerini war über viele Jahre der Mechaniker von Hugo Koblet. Um 1967 sprach sich herum, dass Guerini in den Tessin ziehen wollte und der Laden zum Verkauf stand. Der Bruder des bekannten Radrennfahrers Alois Iten hörte davon und schlug Alois vor, den Laden zu übernehmen. Alois fuhr seit 1959 Rennen und hatte achtmal an der Züri-Metzgete teilgenommen. Er war kein Unbekannter auf der Strecke und erkannte den Wert des zentral gelegenen Ladens.  Also beschloss er, das Geschäft zu übernehmen. Noch ahnte er nicht, dass er später die Leitung der ganzen Rennbahn übernehmen würde.

Rad-Weltmeisterschaften auf der offenen Rennbahn Oerlikon 1961. Die offene Rennbahn ist auch eine der letzten, die noch Steherrennen anbietet. Das sind Rennen, bei denen die Fahrer im Windschatten speziell angefertigter Yamaha-Motorrädern mit bis zu 100 Stundenkilometer fahren.

Eine Reise in die Vergangenheit

Heute ist der Fahrradladen Iten in Oerlikon ein Erlebnis für alle, die Läden vollgestopft mit Fahrrad-Memorabilien schätzen. Es gibt auf kleinstem Raum so viel zu sehen, dass du unbedingt genügend Zeit für den Besuch einplanen musst. Die Wände sind voll mit alten Postern, Fotos, Postkarten, Helmen, Schläuchen, Felgen, Rädern, Werkzeugen, Trikots und einem alten Telefon, von dem ich bis heute nicht weiss, ob es funktioniert. Der Laden ist ausserdem nicht einfach zu begehen. Was gibt es Schöneres! Man muss genau aufpassen, wohin man tritt, denn unter den Füssen könnte etwas Wertvolles liegen!

Wenn der Laden geöffnet ist, was normalerweise samstags der Fall ist, sitzen regelmässig eine Handvoll Senioren vor dem Laden und plaudern miteinander. Itens Geschäft ist eine Institution geworden, ja, ein sozialer Treffpunkt . Da geht es um die Themen des Tages, Rennen, körperliche Beschwerden, die Vergangenheit und die Zukunft, und alte Witze werden zum Besten gegeben. Ab und zu schauen die Kinder und Enkel der älteren Herren und vorbei. Alois Iten selbst ist eine Goldgrube für Informationen über den Schweizer Radsport von heute und der Vergangenheit betrifft. Schliesslich fährt jeder aufstrebende Amateur und Profi irgendwann durch die Tore der Rennbahn. Kennst du das Phänomen «Six Degrees of Kevin Bacon». In Schweizer Radsportkreisen übertragen hiesse es “Six Degrees of Alois Iten”. Wenn er jemanden nicht kennt oder nicht jemanden kennt, der eine Person kennt, dann muss man jene Person in Sachen Radrennsport nicht kennen!

Iten hat in den 1970er und 80er Jahren mehrere Amateurteams gesponsert und einige der besten Fahrer gehörten dazu. Nebenbei wurde Iten Präsident der IG offene Rennbahn Oerlikon, der die Bemühungen zur Rettung der sanierungsbedürftigen Strecke vorantrieb. Zudem wurde er zum Leiter Betrieb und ist seither zusammen mit  vielen Freiwilligen bemüht, die Anlage in Schuss zu halten – eine Herkulesaufgabe. Er ist heute in seinen späten Siebzigern, sieht aber mindestens zehn Jahre jünger aus, und inzwischen das Gesicht, wenn nicht sogar die Seele, der offenen Rennbahn.

Ich war 1996 dabei, als Lance Armstrong im Zielsprint der Zürcher Meisterschaft Zweiter wurde. Das war zwei Monate bevor bei ihm Krebs diagnostiziert wurde.

Alex Clarke

Von der bedrohten Art zur Bahn mit Zukunft

Die offene Rennbahn Oerlikon hat in den letzten über hundert Jahren Höhen und Tiefen erlebt. Es gab Zeiten, in denen ihre Zukunft fragwürdig schien. In den 1970er Jahren war der Abriss zugunsten einer Wohnüberbauung im Gespräch. Später wurde die Rennbahn aus dem «Register schützenswerter Bauten» entlassen, was ihre Zukunft noch stärker gefährdete. Grosse Immobilienentwickler sind in Zürich stets auf der Suche nach erstklassig gelegenen Grundstücken, und die Rennbahn wäre eine Traumstandort. Zum Glück haben die Behörden 2012 die Rennbahn unter Denkmalschutz gestellt und damit ihre Zukunft gesichert. 2018-2020 wurde die Bahn mit Unterstützung der Stadt Zürich für fünf Millionen Franken saniert; der alte Beton der Tribünen und Stützen brauchte dringend Pflege. Dank neuem Anstrich, Beton und einem Facelifting ist die Zukunft der Strecke für viele Jahre gesichert.

Keine andere Bahn in Europa trägt seit längerer Zeit Rennen aus als die offene Rennbahn Oerlikon. Seit Abschluss der Renovierung kann man im späten Frühling und Sommer wieder jeden Dienstagabend vorbeischauen und Rennen fahren. Die offene Rennbahn ist auch eine der letzten, die noch Steherrennen anbietet. Das sind Rennen, bei denen die Fahrer im Windschatten speziell angefertigter Yamaha-Motorrädern mit bis zu 100 Stundenkilometer fahren. Einmal im Jahr gehört die offenen Rennbahn Oerlikon ausserdem den Autos für das “Indianapolis in Oerlikon”, wenn Oldtimer von 1890 bis 1970 auf der Strecke ihre Runden drehen. Alte Bugattis, Alfas und viele einmalige Rennwagen lassen ihre Motoren in der sommerlichen Nachtluft aufheulen.

Wenn Du also an einem Dienstagabend im Frühling oder Sommer mit deinem Rad in der Nähe von Zürich unterwegs bist, fahr unbedingt bei der offenen Rennbahn Oerlikon für einen unvergesslichen Abend vorbei. Oder Besuch Alois Itens Laden an einem Samstagmorgen, und triff gleich zwei Legenden: die Bahn und Alois Iten!

Alex